06. Jul 2017

„Es ist eine Tragödie“

Beitrag in der FAZ

Im Gespräch: Heribert Schwan, Ghostwriter Helmut Kohls

FAZ0607

Herr Schwan, Sie waren der Ghostwriter von Helmut Kohl. Aus Ihrer Feder stammen sowohl das Tagebuch, mit dem sich Kohl nach der Spendenaffäre zu verteidigen versuchte, als auch die ersten drei von vier geplanten Bänden der Kohl-Memoiren. 2009 kam es zwischen Ihnen und Kohl zum Bruch. Wie haben Sie von Kohls Tod erfahren?

Ecki Seeber, Kohls früherer Fahrer, informierte mich. Ich dachte: Nun hast du also endgültig einen väterlichen Freund
verloren – bei allen juristischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre.

Weggefährten von Kohl haben geäußert, der frühere Kanzler habe sich einen Staatsakt gewünscht. Sie haben Kohl mehr als 600 Stunden lang für seine Memoiren interviewt.Was ist Ihre Einschätzung?

Als ich die Bilder vom europäischen Trauerakt in Straßburg und vom Requiem in Speyer sah, fand ich, dass die ganze Zeremonie
sehr würdig war. Besser hätte man den großen Europäer Kohl nicht verabschieden können. Aus unseren langen Gesprächen habe ich aber den sicheren Eindruck mitgenommen, dass Kohl einen Staatsakt für sich wollte. Kohl hat immer wieder vom Staatsakt für Willy Brandt gesprochen. Der war ein Vorlauf für seinen eigenen Staatsakt. Er sagte: So werde ich irgendwann aufgebahrt sein im Reichstag. Kohl wusste, wenn er die Augen zumacht, dann gibt es für ihn Berlin und Speyer. Dass das Requiem in seiner „Hauskirche“, dem Speyerer Dom, stattfinden wird, war ebenso klar wie, dass es einen Staatsakt in Berlin geben sollte. Vielleicht hat er seine Meinung am Ende doch noch geändert. Aber ändert ein betagter Mensch in so fundamentalen Fragen seine Meinung? Ich glaube nicht.

Wie wurden Sie Kohls Ghostwriter?

Ich hatte schon in den achtziger Jahren eine Biographie über Kohl geschrieben. Er merkte damals, dass ich mir viel Mühe machte mit Zeitzeugenbefragungen und so weiter. Dann habe ich 1987 einen Film für die ARD gedreht, ein Porträt vor der Bundestagswahl. So kamen wir uns näher. 1998/99, nach seiner verlorenen Wahl, ging ich zu ihm, um die Biographie zu aktualisieren, um daraus eine Bilanz seiner Regierungszeit zu machen. Ich sagte: Wieso schreiben Sie nicht Ihre Memoiren? Er antwortete: Wenn Sie mir dabei helfen. Und damit war ich engagiert. Zunächst sollte ich nur die wissenschaftliche Begleitung machen. Schnell wurden daraus das Konzipieren und Schreiben.

Welche Vorarbeiten waren nötig?

Als Erstes legten wir fest, dass er mir mindestens 200 Stunden zum Gespräch zur Verfügung steht. Ich habe dann auf 630 Stunden erweitern müssen. Zwei Jahre lang haben wir nurmiteinander gesprochen. Mit Kohl gab es nie eine Pause. Egal, ob wir im Auto saßen, in der Kneipe, im feinen „Deidesheimer Hof“. Immer wollte er mir etwas mitteilen. Die Tonbandaufzeichnungen fanden aber im Keller seines Hauses in Oggersheim statt. Kohl verstand es sehr gut, mir als Ghostwriter zu erklären, wie er denkt, wie er fühlt, was er meint, wie er tickt. Parallel dazu habe ich die Akten aus den Archiven durchgearbeitet: also die Fraktions-und Parteiprotokolle und natürlich auch die relevanten Regierungsdokumente. Kohl meinte zunächst, es reiche, wenn er mir alles erzähle. Aber ich überzeugte ihn, dass das nicht genügte. Nur aus der Kombination einer unendlichen Menge von Dokumenten und denmündlichen Interpretationen Kohls konnten die Memoiren entstehen. Sehr wichtig war, Kohl durch gezielt recherchierte Fragen eine Struktur für die Gespräche vorzugeben. Das ist dann gut gelungen, und er war so glücklich, dass ich ihm voll und ganz zu Diensten war.

Warum haben Sie sich für die Tonbandaufnahmen in den Keller des Kohl-Bungalows in Oggersheim zurückgezogen?

Das war ein großer Raum mit Tageslicht mit einem riesengroßen Tisch, auf dem man die enormen Aktenbestände gut ausbreiten konnte. Oben ging das Telefon, da wurde man oft gestört. Es handelte sich ursprünglich um einen Tischtennisraum für Hannelore Kohl und ihre Mutter und die Kinder. Da stand auch noch Spielzeug. Das war eine sehr gemütliche, entspannte Atmosphäre.

Was waren die ersten Gesprächsthemen?

Wir sprachen über die Situation der CDU nach der verlorenen Wahl. Scharf ging er mit seinem Nachfolger Gerhard Schröder ins Gericht. Und er haderte mit der Entwicklung der Union. Ein Einschnitt für ihn war, als dann im Dezember 1999 der Artikel in der F.A.Z. von Angela Merkel erschien, mit dem sie sich von ihm emanzipierte und einen Schlussstrich unter die Ära Kohl ziehen wollte. Das hat ihn unglaublich getroffen. Daher rührt seine Ablehnung Merkels. Von diesem Zeitpunkt an hat er über Jahre hinaus seine Meinung über Merkel niemals mehr geändert.

Wen Kohl einmal mit seiner Acht belegt hatte, kam da nicht mehr heraus?

So ist das. Es gibt viele Beispiele dafür.
Geißler, Blüm, Biedenkopf, Weizsäcker,
Späth, die ja 1989 versuchten, ihn zu entmachten.
Er war zutiefst verletzt und beleidigt
durch deren Verhalten. Kohls
Freund-Feind-Denken hat sich niemals
geändert.

Wie funktionierte die Freigabe der von Ihnen geschriebenen Kohl-Memoiren?

Immer wenn wieder ungefähr 100 Seiten Kohl-Memoiren fertig waren, fuhr ich nach Oggersheim, und er las dann alles in meiner Anwesenheit. Am Anfang war ich sehr nervös. Aber er schätzte meine Arbeit von Beginn an. Nichts von dem, was ich je für ihn geschrieben habe, lehnte er ab. Es ging um geringfügige Veränderungen bei der ein oder anderen Bewertung, er bat mich dann meist um einen anderen Vorschlag, und so wurde es dann gemacht. Das Handwerk des Ghostwritens besteht darin, sich in seinen Auftraggeber hineinzuversetzen. Also lebte ich in dieser Zeit in einer anderen Welt, in einer Kohl-Welt. Tag und Nacht ging das. Oft habe ich sogar Kohl-Szenen geträumt. Das war eine aufregende, wunderbare, unglaublich anstrengende Zeit, die mich im Nachhinein tieftraurig macht, weil sie so endete, wie sie endete. Mich macht es fertig, dass wir uns nicht mehr aussprechen konnten. Hat Kohl Anfang 2009 wirklich entschieden, Knall auf Fall auf mich zu verzichten? Das geht mir nicht mehr aus dem Hirn.

Was sind Ihre Gedanken dazu?

Es ist mir ein Rätsel. Warum sollte Kohl das Risiko eingehen, dass seine Memoiren nicht fertig werden? Ich empfinde das als große Tragödie. Denn ich bin überzeugt: Ein so geschichtsbewusster Mann wie Helmut Kohl hätte nie aus freien Stücken auf den vierten Band seiner Memoiren verzichtet. Wir hatten ja alles genau abgesprochen. Es sollte nicht nur um die letzten Jahre seiner Kanzlerschaft gehen, sondern auch um die Spendenaffäre und auch um den Tod seiner ersten Frau Hannelore. Nach drei Bänden kannte er meine Fähigkeiten als Ghostwriter. Aber es gab den Konflikt mit seiner neuen Frau Maike Kohl-Richter, der sich schon einige Jahre hinzog. Nach Kohls schwerem Treppensturz Anfang 2008 hat dieser Konflikt dazu geführt, dass die Zusammenarbeit mit mir beendet wurde. Aber: Hat er das alles mitbekommen? Hat er mir wirklich kündigen wollen? Diese Fragen werde ich nicht mehr beantwortet bekommen, sie quälen mich. Ich glaube nicht, dass er die Trennung wollte. Ich denke, es gab Dritte, die Schlussstriche ziehen wollten. Man darf nicht vergessen, dass ich vieles mitbekommen habe, schon zu Lebzeiten von Hannelore Kohl, dann nach ihrem Tod. Dass ich auch vieles mitbekommen habe, als die neue Liebe zu Maike Richter begann. Das scheint mir das Muster zu sein: Alle, die auch zu Hannelore Kohl einen guten Draht hatten und über Kohls Liebesverhältnis Bescheid wussten, wurden später aussortiert. Denken sie nur an Ecki Seeber, Kohls treuen Chauffeur, und dessen Frau, die seinen Haushalt führte – auch sie wurden entfernt.

Das zur Hälfte fertige Manuskript des vierten Memoirenbands endet mit dem Tod François Mitterrands im Jahr 1996. Die letzten ausformulierten Kohl-Worte lauten: „Ich hatte einen wirklichen Freund verloren.“ War das schon freigegeben?

Nein. Ich brachte Kohl diese Hälfte des vierten Bandes am 10. Oktober 2008. Ich bat ihn darum, dass er sich damit beschäftigt. Aber ich hörte nichts mehr von ihm. Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah. Er war vom Sturz schwer gezeichnet. Er konnte so gut wie nicht mehr sprechen. Ich saß neben ihm, er klopfte mir auf den Schenkel. Beim Abschied sagte er unter großen Mühen zu mir und seiner Frau Maike: Ich möchte, dass ihr euch vertragt, wenn ihr an meinem Grab steht.

Wann bekamen Sie das Kündigungsschreiben vom Kohl-Anwalt?

Es gibt eine Vorgeschichte. Wir produzierten für die ARD eine mehrteilige Fernsehserie über den 60. Geburtstag der Bonner Republik im Jahr 2009. Dazu sollte es ein Begleitbuch geben mit bearbeiteten Zitaten aus den Fernsehinterviews. Kohl bekam das Manuskript zur Freigabe. Nach Wochen erfuhren wir, seine neue Frau bearbeite das, das sei nicht druckreif. Was dann aber von Kohl-Richter kam, hatte nichts mehr mit den Fernsehtönen zu tun. So konnte man das einfach nicht drucken. Also schrieb ich Helmut Kohl, bat noch einmal um Freigabe und teilte ihm mit, wenn das nicht möglich sei, könne ich den vierten Band unter diesen Bedingungen nicht fertigstellen. Das Manuskript mit den Kohl-Passagen der „Bonner Republik“ wurde mir zurückgeschickt wie im Original. Zugleich bekam ich einen Brief des Anwalts: Hiermit sei die Zusammenarbeit zwischen seinem Mandanten und mir beendet. Das war im Januar 2009.

Im Jahr 2014 haben Sie dann zusammen mit Ihrem Ko-Autor Tilman Jens im Buch „Vermächtnis. Die Kohl-Protokolle“ eigenmächtig aus den von Ihnen angefertigten Kohl-Bändern zitiert. Das war eine klare Grenzüberschreitung, die man im Kohlschen Sinn als „Verrat“ bezeichnen kann. Prompt kam es zum Rechtsstreit.Warum sind Sie dieses Risiko eingegangen?

Wir waren überzeugt, wenn wir jetzt nichts aus diesen historischen Tonbandaufnahmen veröffentlichen, sind die Bänder auf alle Zeit unzugänglich für die Öffentlichkeit. In meinem Vertrag mit dem Verlag der Memoiren – mit Kohl selbst hatte ich keinen Vertrag – war keine Schweigepflicht für mich vereinbart worden. Diese ja durchaus erstaunliche Lücke und eklatante Abweichung zu sonstigen Ghostwriterverträgen haben wir zum Anlass genommen, um der Öffentlichkeit anschaulich zu machen, wie Kohl wirklich denkt.Wir haben alles darauf gesetzt, dass wir nichts Privates, Persönliches, Intimes veröffentlichen, nichts ohne unmittelbaren politischen Bezug. Wir wollten verhindern, dass die Aussagen auf den Bändern für alle Zeit im Oggersheimer Keller verschwinden. Heute bestätigt sich doch, dass wir recht gehabt haben. Denken Sie an den Krach um die noch im Oggersheim befindlichen Akten und die Diskussion darüber, wer die Deutungsmacht über Kohl bekommt.

Bisher haben Sie vor Gericht aber nur krachende Niederlagen kassiert. Erst im April hat das Landgericht Köln Sie, Jens und den Verlag zu einem Rekord-Schmerzensgeld von einer Million Euro verurteilt, weil das alleinige Verfügungsrecht über die Bänder Kohl zustehe. Lagen Sie nicht einfach falsch mit dem Buch?

Das Urteil ist noch lange nicht rechtskräftig. Die Sache liegt jetzt erst einmal beim Oberlandesgericht Köln. Ich hoffe, dass schon das OLG zur Kenntnis nimmt, dass es in meinem Vertrag keine Schweigeverpflichtung gibt. Was die wahnsinnige Schmerzensgeldforderung angeht, die meinen Kollegen und mich natürlich in der Existenz bedroht und auch den Verlag nicht kaltlässt, da müssen wir einfach abwarten.

Die Kohl-Anwälte fordern auch die Herausgabe der Tonband-Kopien und Abschriften. Warum liegt das Materialnoch bei Ihnen?

Ich bin jederzeit bereit, meine digitalen Kopien und die etwa 3000 Seiten umfassenden Abschriften dem Bundesarchiv und dem Archiv der Konrad-Adenauer-Stiftung zu überlassen – immer vorausgesetzt natürlich, es ist juristisch in Ordnung und ich werde nicht wieder verklagt.

Warum ist es wichtig, dass die Tonbandaufzeichnungen für die Forschung zugänglich bleiben?

Helmut Kohl interpretiert darin sein komplettes Leben. Es handelt sich um sein mündliches Vermächtnis. Kohl beschönigt auf den Bändern nichts. Auch nichts, was seine Person betrifft. Von großer Bedeutung sind seine ausführlichen Einschätzungen zu politischen Freunden und Gegnern, die Art und Weise, wie er sein enormes historischesWissen mit den politischen Abläufen verflicht, die er selbst gestaltet hat. Ein wichtiger Wert sind auch die von ihm dargelegten Zusammenhänge über Europa. Die Bänder sind für die Kohl-Forschung auch deshalb wichtig, weil Kohl das gesprochene Wort immer wichtiger war als jeder Schriftwechsel. Nur wenn man die mündlichen Aussagen und die schriftlichen Quellen zusammenlegt, bekommt man ein komplettes Bild.

Was bleibt für Sie von Helmut Kohl?

Es bleibt die Erinnerung an einen Menschen, der mir sehr ans Herz gewachsen ist, weil ich mich in ihn hineinversetzt habe, fast bis zur Selbstverleugnung. Es bleibt die Erinnerung an einen Mann, der Großes geleistet hat für sein Land. Am Vermächtnis des großen Staatsmanns Kohl mitarbeiten zu dürfen war eine Ehre für mich. Und dann auf der anderen Seite ist die Erinnerung an diesen Bruch, der nicht mehr gutzumachen ist. Und es bleibt die Ungewissheit, ob Helmut Kohl es vielleicht doch so gewollt hat, seiner zweiten Frau Maike Kohl-Richter zuliebe, oder ob er in Oggersheim in der Falle saß und nicht mehr rauskonnte.

Die Fragen stellte Reiner Burger.

 

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