15. Mrz 2018

Interview mit Heribert Schwan "Merkel wird machen, was Kohl vorhatte"

Interview auf n-tv.de von Hubertus Volmer

Zum vierten Mal ist Angela Merkel zur Bundeskanzlerin gewählt worden. Das erinnert an Helmut Kohl, der mehr als 16 Jahre Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland war. Kohl hat die Chance verpasst, sein Amt an einen Nachfolger zu übertragen und so der SPD 1998 den Weg in die Regierung eröffnet - so jedenfalls die verbreitete Lesart. Kohls früherer Ghostwriter Heribert Schwan widerspricht: Kohl habe fest vorgehabt, die Kanzlerschaft 1996 an Wolfgang Schäuble zu übergeben. Doch FDP und CSU spielten nicht mit.

n-tv.de: Helmut Kohl hat nach Angaben seines Biographen Hans-Peter Schwarz 1996 bei einem EU-Gipfel gesagt, er hätte "lieber im letzten Jahr aufgehört" und sei nur noch im Amt, um den Euro durchzusetzen. Stimmt es, dass Kohl am liebsten aufgehört hätte?

Heribert Schwan: Ursprünglich war Helmut Kohl fest entschlossen, es so zu machen - ich weiß das von seiner Frau Hannelore, die ihn immer gedrängt hatte, früher aufzuhören. Aber dann gab es gute Gründe, den Plan zu ändern.

Welche?

Dazu gehörte auch der Euro. Aber vordergründig war es die schwache Mehrheit im Deutschen Bundestag. Nach der Bundestagswahl von 1994 hatte die Koalition von CDU/CSU und FDP nur noch eine Mehrheit von vier Stimmen. Helmut Kohl hatte eigentlich geplant, in der Mitte der Legislaturperiode, also 1996, zurückzutreten und seinem Kronprinzen Wolfgang Schäuble das Amt zu überlassen.

Dazu kam es nicht.

Kohl führte Vier-Augen-Gespräche mit Abgeordneten der Koalition, um herauszufinden, ob Schäuble eine Mehrheit hätte. Das Ergebnis war: Diese Mehrheit gab es nicht. Das war der Hauptgrund, warum er von seinem Plan abgekommen ist. Denn wenn Schäuble bei der Kanzlerwahl im Bundestag keine Mehrheit bekommen hätte, wäre es zu Neuwahlen gekommen. Und Kohl wusste, dass dann Rot-Grün an die Macht gekommen wäre.

Es gibt das berühmte Zitat von 1997, als Kohl nach einem Parteitag in einem Fernsehinterview sagte: "Jeder weiß, ich wünsche mir, dass Wolfgang Schäuble einmal Bundeskanzler wird." Da der damalige CDU-Generalsekretär Peter Hintze später ergänzte, Kohl wolle noch fünf Jahre regieren, wurde das damals so verstanden, als hätte Kohl Schäuble in die Schranken weisen wollen.

Aber so war es nicht. Schäuble war nicht beliebt bei der FDP, er hatte als Kanzleramtsminister arrogant gehandelt und viele Menschen verletzt. Er wurde respektiert, aber nicht gemocht. Klaus Kinkel, damals FDP-Chef und Bundesaußenminister, hatte Kohl klar signalisiert, dass nicht alle FDP-Abgeordneten Schäuble wählen würden.

Aus der CSU, namentlich von Theo Waigel, kam der Hinweis, dass es CSU-Bundestagsabgeordnete gab, die auf keinen Fall mitten in der Legislaturperiode ein solches Risiko eingehen wollten. Das war für Kohl der entscheidende Grund, darum sagte er schließlich: Dann muss ich es noch mal machen - obwohl er alle Hinweise hatte, dass seine Sympathiewerte zurückgingen, dass die CDU in schwierige Fahrwasser kam. Denn Helmut Kohl hatte ein spezielles Verhältnis zu Elisabeth Noelle-Neumann, der Chefin des Meinungsforschungsinstituts Allensbach - der "Pythia vom Bodensee". Von ihr hatte Helmut Kohl exklusive Informationen darüber, wie er im Volk gesehen wurde. Daher wusste er 1996, dass es schwierig werden würde, wie er 1998 wusste, dass er die Wahl nicht mehr gewinnen konnte.

Es lag also vor allem an Befindlichkeiten in der FDP?

Es gab noch einen weiteren Grund: Aus der CSU gab es Stimmen, dass ein Mann im Rollstuhl nicht Bundeskanzler werden könnte. Helmut Kohl sah das ganz anders, ihn hat dieses Argument zutiefst getroffen. Kohl nannte den Rollstuhl immer "Wägelchen". Für ihn war das kein Hinderungsgrund. Er brachte immer das Beispiel des 32. Präsidenten der USA, Franklin D. Roosevelt, der wegen einer Kinderlähmung im Rollstuhl saß - ein erfolgreicher Präsident, der einen ganz wesentlichen Anteil am Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg hatte. Dass "ein Mann im Wägelchen" nicht in der Lage sein sollte, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland zu werden, hat ihn richtig auf die Palme gebracht. Die Europapolitik war nur der dritte Grund. Helmut Kohl wurde von den anderen europäischen Regierungschefs praktisch genötigt, nur ja im Amt zu bleiben, damit der Euro eingeführt werden kann.

Im September 2000, als Kohl und Schäuble sich schon zerstritten hatten, brachte der "Spiegel" eine Titelgeschichte über den "Bruch". Darin heißt es, Schäuble sei 1997 "wie vom Donner gerührt" gewesen, als er hörte, dass Kohl ihn zum Kronprinzen "degradiert" habe.

Das ist eine Legende, Kohl hatte Schäuble jahrelang zum Nachfolger aufgebaut. 1990 wurde Schäuble durch diesen teuflischen Anschlag verletzt. Er war praktisch gerade aus der Narkose erwacht, da sagte Kohl zu ihm, dass er ihn als seinen Nachfolger wünsche und das Attentat nichts daran ändere. Schäuble hatte ja von 1984 bis 1989 das Kanzleramt geleitet und dort meisterhaft agiert. Kohl machte ihn vor allem deshalb zum Innenminister, um ihm eine gute Ausgangsposition zu verschaffen. Das klappte ja auch: Als Bundesinnenminister verhandelte er 1990 den Einigungsvertrag mit Günther Krause - aus Sicht von Helmut Kohl eine Meisterleistung. 1991 wurde Schäuble Fraktionschef - erneut ein Karrieresprung. Alles im Sinne von Kohls Nachfolgeplan.

Im Januar 2000 zerbrach diese politische Freundschaft. Hat Kohl je verstanden, dass Schäuble sich von ihm schlecht behandelt fühlte?

In meinem Beisein hat Kohl sich oft zum Vorwurf gemacht, dass er nie offen mit Schäuble über die Vorbehalte gesprochen hat, die es in der CSU gegen ihn gab. Kohl hat nie mit Schäuble darüber gesprochen, dass es FDP-Abgeordnete gab, die ihn nicht wählen wollten. In solchen Fragen war Kohl feige, wie Männer manchmal feige sind. Er wollte Schäuble das nicht offen ins Gesicht sagen. Dass Kohl und Schäuble sich so schrecklich überworfen haben, lag an der Spendenaffäre - ein weites Feld. Es gab nie eine Aussprache zwischen ihnen. Bis 2008 war ich ja als Ghostwriter seiner Memoiren aufs Engste mit Kohl verbunden. Noch zu dieser Zeit versuchte Kohl, sich mit Schäuble zu versöhnen. Das lief immer über Mittelsmänner. Aber Schäuble hat das stets abgelehnt.

Kann Angela Merkel etwas daraus lernen, wie es 1998 gelaufen ist?

Kohl hatte einen guten Plan, der nicht funktioniert hat. Insofern ist dies ein anderer Fall. Vielleicht könnte sie lernen, dass es wichtig ist, dem Wunschnachfolger oder der Wunschnachfolgerin ein einflussreiches Ministerium zu geben, in dem sich dieser Mensch profilieren kann. Bis 1996 hat Kohl es mit Schäuble so gemacht, Angela Merkel hat das alles damals hautnah mitbekommen in der Bonner Republik. Ich bin sicher, sie weiß ganz genau, dass es allerhöchste Zeit ist, ein Zeichen zu setzen. Mit der Berufung von Annegret Kramp-Karrenbauer hat sie das ja auch gemacht. Wobei wir natürlich nicht wissen, ob und wie sehr die Kanzlerin auf Frau Kramp-Karrenbauer festgelegt ist - in den Ressorts hat sie ja auch noch Leute wie Peter Altmaier, Jens Spahn und andere. Sie wird da genau hingucken, wie diese Leute sich profilieren, wenn die GroKo jetzt einigermaßen läuft. Ich wette mit Ihnen, dass sie das machen wird, was Kohl vorhatte: Sie wird mitten in der Legislaturperiode ihre Nachfolge regeln.

Noch ein Wort zum Rechtsstreit um Ihr Buch "Vermächtnis: Die Kohl-Protokolle". Kohls Witwe Maike Kohl-Richter hat Ihnen vorgeworfen, Sie hätten die Erinnerung an den verstorbenen Altkanzler beschädigt. Haben Sie ein schlechtes Gewissen, weil Sie Inhalte von Interviews veröffentlicht haben, die nur für Sie bestimmt waren?

Es gab keine Schweigepflicht, ich hätte auch niemals eine solche Verpflichtung unterzeichnet - das verlangte Kohl auch gar nicht. Helmut Kohl hat mich als den Mann angesehen, der sein Vermächtnis vertritt, wenn er eines Tages stirbt. Ich hatte als einziger Journalist der Welt - das sage ich in aller Bescheidenheit - Einblick in alle Protokolle der Kabinettssitzungen, in die Protokolle seiner Gespräche mit den Großen der Welt. Ich habe 630 Stunden Gespräche mit ihm geführt, ich hatte Zugang zu einem Herrschaftswissen wie sonst niemand. Volksschriftsteller, so nannte er mich. 2005 sagte er mir: "Wenn ich morgen sterbe, musst du alles veröffentlichen, was ich dir gesagt habe und was du eingesehen hast an Dokumenten. Dann kannst du unter deinem Namen meine Memoiren weiterschreiben." Dass ich das so früh publiziert habe und in dieser Art und Weise, darüber kann man streiten. Aber ich wollte doch nicht Kohl treffen, sondern diejenige, die da vorgibt, die Deutungshoheit zu besitzen.

Mit Heribert Schwan sprach Hubertus Volmer